Einfach mal runterkommen

Fotografieren ist ein wunderbares Hobby. Man kann es alleine betreiben, muss sich nicht mit anderen Mitmenschen herumärgern und kann dafür auch viel Geld ausgeben. Oft und gern liest man über die geradezu meditative Wirkung beispielsweise der Landschaftsfotografie. Was aber, wenn man die Freizeitbeschäftigung noch einmal auf ein ganz neues Level heben kann? Foto-Spaziergänge sind da ein probates Mittel. Ein persönlicher Erfahrungsbericht.

Viele Jahre habe ich vor mich hin fotografiert. Das war herrlich. Ich musste mir keine klugen Ratschläge von anderen anhören, und überhaupt reicht eine Kamera nur für einen. Für andere ist hinter dem Sucher kein Platz. Irgendwann allerdings kam der Zeitpunkt, an dem ich mir eingestehen musste, dass es alleine keine echte Weiterentwicklung gibt. Da musste es noch mehr geben, als mit der Kameraautomatik Gebäude in Städten oder vielleicht mal ein Familienfoto zu ergattern, egal, wie großartig solche Aufnahmen waren. Ich lernte einen anderen Fotografen kennen, der ganz wunderbare Fotos präsentierte. „Nachbearbeitung ist das Zauberwort“, verriet er mir. Ich stürzte mich also auf die bekannte Software, um meinen Bildern mehr zu entlocken, als es die Automatik der Kamera hergab. Allein, ich war zu blöd. „Dann entfernen wir schnell das Halteverbotsschild vor dem Haus“, bekam ich zu hören. Wenn ich es versuchte, sah es so aus, als sei ein Gespenst vor dem Haus hergehuscht. Und Spaß machte es so viel, wie ein Treppenhaus zu putzen.

Also nutzte ich meine persönlichen Kontakte. Damit habe ich noch nie viel Glück gehabt. Ich reiste ins Allgäu zu einem Fotografen, den ich auf einem italienischen Weingut kennengelernt hatte. Er erklärte sich bereit, mich für ein paar Tage in seinem Studio hospitieren zu lassen. Er wies mich darauf hin, dass man „die Linse“, also das Objektivglas auch mal reinigen müsse, stellte meine Kamera in den Abendstunden auf einen Holzblock in seinem Garten, nahm ohne weitere Erklärungen einige Einstellungen an meinem Fotoapparat vor und forderte mich dann auf, den Auslöser zu drücken. Es entstand ein eindrucksvolles Bild von seinem nächtlichen Garten. Leider waren seine pädagogischen Fähigkeiten damit erschöpft. Nach dieser Reise war ich so weit, dass ich meine Kamera in den Schrank legte und für mich das Thema damit eigentlich erledigt war. Mein Kopf war damit fertig, mein Herz noch nicht.

Ein Grundlagenkurs eröffnet neue Perspektiven

Eines Tages entdeckte ich das Angebot eines Workshops beim Händler meines Vertrauens. Irgendetwas mit Grundlagen der Fotografie. Einen ganzen Samstag lang. Das klang doch so, als könnte man da etwas lernen. Eine Viertelstunde vor Beginn fand ich mich vor dem Veranstaltungsort ein. Entdeckte den einen oder anderen, der ebenfalls eine Fototasche schulterte. Aber es gab keinen, der grüßte, geschweige denn fragte: „Machst du auch bei dem Workshop mit?“ Sehr merkwürdig. Der Dozent hielt einen großartigen Vortrag, bei dem ich in der Tat viel über die Fotografie und meine Kamera lernte. Bis dahin kann ich nur jedem, der sich mit Fotografie beschäftigen oder sich darin weiterentwickeln möchte, einen solchen Workshop empfehlen. Der zweite Teil einer solchen Veranstaltung besteht dann in der Regel aus einem Foto-Spaziergang. Man spricht in Fachkreisen von einem Photo Walk.

Ein Grundlagenkurs ist in jedem Fall empfehlenswert, und die Kombination mit einem Foto-Spaziergang ist eine echte Bereicherung.

In den Folgejahren besuchte ich immer mal wieder solche Workshops, die sich immer häufiger als die teuerste Form des Photo Walks herausstellten. Dabei schwankte die Qualität in Abhängigkeit vom Dozenten. In den wenigsten Fällen hing sie von der Gruppe ab, mit der man den Photo Walk unternahm. Es mag durchaus sein, dass ich eine Negativ-Auslese erlebte. Wirklich traf ich auf eine Menge skurriler Typen beiderlei Geschlechts. Was läge näher, als sich bei einem solchen Spaziergang zu unterhalten: über Kameras, Zubehör, Einstellungen an der Kamera, Lösungsmöglichkeiten bei schwierigen Lichtsituationen und so weiter und so fort. Es gibt eine Menge Themen in der Fotografie, über die man sich unterhalten kann. An nichts dergleichen kann ich mich erinnern. Selbst Fragen an den Dozenten fanden nicht in der Gruppe statt, sondern wurden fast schon heimlich, zumindest aber so unauffällig wie möglich gestellt. Aus nicht einer Gruppe ist auch nur ein Kontakt entstanden. Es war mitunter schon fast gespenstisch. Eine mögliche Erklärung mag sein, dass hier niemand war, der über eine fundierte Ausbildung verfügte, man sich sein Wissen immer nur bruchstückhaft aneignete und die Wissenslücken nicht gern offenbarte. Man möchte nicht annehmen, dass die Teilnehmer sich schlicht weigerten, ihr Wissen mit Gleichgesinnten zu teilen.

Trotzdem kann ich die Teilnahme an einem solchen Kurs nur wärmstens empfehlen, vor allem an einem Grundlagenkurs. Das Geld ist besser angelegt als für ein neues Objektiv. Und Geld für eine oder zwei neue Speicherkarten ist auch noch drin. Die Dozenten, die ich in den Jahren kennengelernt habe, konnten ihr Wissen durch die Bank weg gut vermitteln. Es gab – sowohl in den Vorträgen als auch in den persönlichen Gesprächen – durchweg weiterführende Tipps, die man im weltweiten Netz so nicht findet. Und auch die Teilnahme an den Photo Walks hat unbedingt ihren Reiz, wenn der Dozent auf der Straße zeigt, wie man schwierige Aufnahmesituationen leichterdings bewältigt. Wer darauf hofft, hier auf Gleichgesinnte zu treffen, mit denen man vielleicht auch in Zukunft abseits eines solchen Kurses mal ein Treffen vereinbaren könnte, wird – so weit meine Erfahrungen – bitter enttäuscht.

Taugen also Photo Walks nichts? Bleibt man lieber dabei, sich die Kamera über die Schulter zu hängen und alleine spazieren zu gehen? Sich meditativ mit der Landschaftsfotografie zu befassen, bei der man sich stundenlang damit beschäftigen kann, die richtige Kameraeinstellung zu finden, bis die Sonne über der richtigen Bergkuppe blitzt? Oder gar nachts den Sternenhimmel zu fotografieren? Wenn man beruflich mit Fotografie befasst ist, bleibt eigentlich gar keine Zeit, an solchen Spaziergängen teilzunehmen. Aber wo sonst sollte man auf Gleichgesinnte treffen? Und es gibt ja nicht nur die Photo Walks in Zusammenhang mit bezahlten Kursen. Hin und wieder bieten beispielsweise auch Kamera-Händler solche Zusammenkünfte an, um etwa neue Kameras vorzustellen oder auch einfach Kundschaft zu besonderen Anlässen mit ihrem Namen in Verbindung zu bringen. Überlaufen ist eine solche Veranstaltung, wenn die Anwesenheit eines Modells angekündigt wird. Dann herrschen ähnliche Verhältnisse wie beim Auftritt von Politprominenz. Dutzende Menschen mit Kameras drängen sich um das Modell, wer zuerst kommt, mahlt, nein, knipst zuerst. Dabei scheint vollkommen uninteressant zu sein, wie attraktiv das Modell ist. Das mal erlebt zu haben, ist eine unglaubliche Erfahrung. Wiederholen muss man es nicht.

Ansturm auf das Model. Da kennt der Hobby-Fotograf kein Halten und keine Rücksicht mehr.

Ebenfalls kein zweites Mal brauche ich einen solchen Spaziergang mit einer besonders originellen Idee. Ein Dozent hatte den großartigen Einfall, man möge doch Bilder mit einem weißen Bilderrahmen im Zentrum anfertigen. Ein pädagogischer Kniff, um das Auge für die Bildkomposition zu schulen? Wenn es das war, ist es gründlich schiefgegangen. Bei nicht wenigen Kursteilnehmern sorgte es für eine ziemliche Verärgerung, zumal es nicht vorher angekündigt war. Wenn ein Fotograf die großartige Idee hat, sich mit einem weißen Bilderrahmen im Bild künstlerisch zu verwirklichen, soll er das umsetzen, aber bitte alle anderen damit in Ruhe lassen. Oder meinetwegen zu einem „Künstler-Workshop“ einladen.

Was hier später im Rahmen zu sehen sein wird, soll unbeantwortet bleiben. Und vorher wird nichts verraten. Schließlich ist man nicht im Team unterwegs, sondern auf einem Photo Walk, an dem auch andere teilnehmen.

Die Vielfalt der Foto-Spaziergänge

Nach dieser Erfahrung ließ ich es bleiben, weiteren Einladungen zu folgen. Dann lernte ich eine Dame in meinem Alter kennen, die über unglaubliche Kenntnisse in der Fotografie verfügte, aber die Lust an der Fotografie verloren hatte. Ich war ihr nicht ansatzweise ebenbürtig. Stattdessen überfiel ich sie mit Ideen von Foto-Projekten, die man unbedingt einmal umsetzen müsste. Also zogen wir gemeinsam los, durch verschiedene Stadtteile, durch andere Städte. Wir schauen uns die Ergebnisse unserer Fotografie an, und weil es keinen Wettbewerb gibt, können wir uns nach Herzenslust gegenseitig kritisieren. Es geht ja nie um die Person, sondern immer nur um das fotografische Ergebnis. Oft werden die Spaziergänge durch einen Halt beim türkischen Süßwarenhändler, beim Stand mit frisch gegrillten Hähnchen oder einem Gemüsemarkt unterbrochen, manchmal enden sie in einem Restaurant bei Gesprächen über die Fotografie oder das Leben. Und am Ende des Tages gibt es möglicherweise, aber nicht zwingend, auch Fotos, die nicht sofort gelöscht werden.

Inzwischen gibt es die unterschiedlichsten Angebote von Foto-Spaziergängen. Geschlossene Kollektive, die ihre Mitglieder handverlesen auswählen, Gruppen, die zu Veranstaltungen einladen, bei denen es auch Spaziergänge gibt oder enthusiastische Einzelpersonen, die zu solchen Ereignissen einladen, weil sie beispielsweise mit Gleichgesinnten die Heimatstadt erkunden wollen. Die Möglichkeiten sind breit gestreut. Wer sich dafür interessiert, wird zum Beispiel bei den Suchmaschinen im weltweiten Netz oder bei der Suche nach entsprechenden Gruppen in den so genannten sozialen Medien fündig.

Macht die Teilnahme an Foto-Spaziergängen nach den geschilderten negativen Erfahrungen Sinn? Ein eindeutiges Ja ist die Antwort. Ohne die Anwesenheit eines versierten Dozenten darf man einfach nicht erwarten, in Fachfragen weiterzukommen. Aber schon den anderen dabei zuzuschauen, wie sie fotografieren, mal einen Blick auf die Ergebnisse zu erhaschen, erspart einem so manche Stunde Scrollen auf den einschlägigen Plattformen. Dass man quasi nebenbei häufig einen neuen Blick auf seinen Wohnort, auf andere Städte, ungewöhnliche Aufnahmeorte oder einfach neue Routen kennenlernt, kann ganz sicher auch nicht schaden. Ein nicht unerheblicher Vorteil liegt übrigens auch darin, dass Foto-Spaziergänge nicht unter dem Aspekt „Och, wir laufen mal los und sehen dann schon“ stattfinden, sondern damit auch der Projekt-Gedanke geschult wird. Wenn man sich nicht ganz dumm anstellt, kann man dabei sogar ganz gut lernen, Geschichten mit Bildern zu erzählen. Aber das ist noch einmal ein anderes, mindestens genauso spannendes Thema.

Michael S. Zerban