Das geht gar nicht

Es gibt glücklicherweise auch in der Fotografie Regeln. Das hilft vielen Menschen, Orientierung zu finden und so relativ rasch zu befriedigenden Ergebnissen zu kommen, auch ohne große kreative Geister zu sein. Eine dieser Regeln besagt, „Wimmelbilder“ zu vermeiden, also mit Details überfrachtete Fotos, bei denen man hinterher gar nicht weiß, was der Fotograf dem Betrachter eigentlich erzählen will. Aber es gibt einen weiteren Grundsatz in der Fotografie, und der lautet: Wenn man die Regeln beherrscht, wird es Zeit, sie zu brechen.

Einsamer Kinderwagen: Die Familie hat ihn einfach mal abgestellt, um zu den Ständen auszuschwärmen. Das weiß aber in diesem Moment keiner.

Woher bezieht man heute seine Kenntnisse über Fotografie? Gewiss nicht mehr aus Fachzeitschriften. Stattdessen erfreuen sich Videos auf den großen Plattformen im Internet größter Beliebtheit. Hier findet man inzwischen alle erdenklichen Genres. Besonderes Interesse erfahren Technik- und Zubehör-Kritiken – das sagen die Zugriffszahlen, obwohl die Videografen viel lieber kreative Filme über Bildkomposition, Reiseerlebnisse und Tricks und Kniffe anfertigen. Die Selbstdarsteller, die man heute Content Creator oder Influencer nennt, sind darüber entsetzt, dass das Publikum die neuesten Kameras, die innovativsten Objektive oder Berichte über den ultimativen Foto-Rucksack sehen will, anstatt stundenlange „Laber-Videos“ über Philosophie und Regelkunde zu genießen. Eine Ausnahme stellen die Videos dar, die Bildbesprechungen anbieten. Da schicken Hobby-Fotografen ihre Klick-Ergebnisse an die Videografen, und die kritisieren sie. Die Hoffnung des Zuschauers dabei ist sicherlich, zum vorzeigbaren Bild zu gelangen, während die Einsender auf ein wenig Ruhm hoffen. Und in der Tat lohnt es sich, solche Videos anzuschauen. Da erfährt man viel über die Regeln, wie man zum guten Bild kommt. Und die „Experten“, um mal den abgedroschenen Begriff der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zu bemühen, geben sich redlich Mühe, die Vor- und Nachteile der eingesendeten Bilder abzuwägen. Was dabei im Allgemeinen gar nicht geht, sind „Wimmelbilder“.

Da wird das woke Auge wach: Mitten im Gewusel zwei „Indianer“-Figuren. Geht so was, wenigstens noch auf dem Flohmarkt?

Wimmelbilder zeichnen sich dadurch aus, dass sie vollkommen detailüberfrachtet das Auge des Betrachters überanstrengen, scheinbar ohne wesentliche Aussage auskommen und damit trotz möglicher Farbenfreude und Vielfalt eher für Langeweile sorgen. Also richtet sich der Blick des geschulten Fotografen lieber auch in der Menschenmenge auf das Detail. So lautet die Regel. Aber ist das tatsächlich so? Schließlich lautet die wichtigste Regel: Wenn du alle Regeln beherrschst, wird es Zeit, sie zu brechen. Also auf zum Selbstversuch. Und was eignet sich da besser als der Besuch eines Flohmarktes?

Gibt es das interessante Detail in der Bildmitte, funktionieren sogar Blende 8 und ein Bild, das vor Menschen übersprudelt.

Auf einem Parkplatz der Düsseldorfer Messe hat sich eine solche Veranstaltung etabliert. Eigentlich ist der Flohmarkt am Aachener Platz in der Landeshauptstadt viel bekannter. Mehr Stände und Besucher sind allerdings an der Messe zu finden, obwohl das Areal denkbar schlecht ausgeschildert ist. Zu Beginn des Besuchs ist das Denken ganz auf das Regelwerk ausgerichtet. Wird es wohl gelingen, interessante Detailfotos inmitten des Massenbetriebs zu fertigen? Da gelingt auch das Foto mit dem Karton voller Schellack-Platten oder das mit der Puppe auf dem Stuhl. Ganz schön werden auch zwei Fotos von einem Hutstand, bei dem die Hüte ganz originell auf Schaufensterpuppen drapiert und mit originellen Gemälden kombiniert werden.

Wimmelbilder sind eigentlich verpönt – es sei denn, sie bieten interessante Hingucker, auch wenn man sie erst auf den zweiten Blick entdeckt.

Wimmelbilder haben ihre Berechtigung

Aber wird das eigentlich der Veranstaltung gerecht? Wohl kaum. Auf einem riesigen Gelände wuseln unzählige Menschen herum, verstecken sich Kunstwerke inmitten überfrachteter Stände. Das bringen Detailfotos nicht annähernd zum Ausdruck. Ganz abgesehen davon, dass Fotoapparate auch hier äußerst skeptisch betrachtet werden. Also den inneren Widerstand überwinden und mal in die Menge fotografieren. So, wie man sich die Straßenfotografie vorstellt. Schnell und unauffällig mal die Kamera hochhalten und dann so tun, als interessiere man sich am meisten für die Einstellungen an der Kamera. Und ganz ehrlich: Die Frau, die mit ihrem Bollerwagen in der Menge exotisch wirkt, hätte man en detail sicher in der Wirkung nicht so hinbekommen. Die beiden Holzfiguren, die „Indianer“ in der Vorstellung der 1950-er Jahre zeigen, entdeckt man im Foto des gesamten Standes erst auf den zweiten Blick, dafür wirkt es dann umso spannender. Und der Kinderwagen, der alleingelassen inmitten der Besuchermenge erst wirkt, weil man die fragenden Blicke der Umstehenden ebenfalls sieht. Da entstehen plötzlich Bilder, die sich wohltuend von den Silhouettengestalten vor erkalteter Architektur abheben.

Viel zu unruhig? Erst beim zweiten Blick eröffnet sich der wahre Grund für die Unruhe: eine Seifenblasenmaschine einer bekannten Bauklötzchenfirma.

Der Heimweg eher frustrierend. Viele Bilder mit Menschenmengen, na gut, ein paar Detailaufnahmen, aber dafür die Strapazen des Nachmittags, das klingt schon nach geringer Ausbeute. Erst in der Nachbetrachtung erschließt sich der Gewinn. Und ohne das Wimmelbild zum Stilprinzip erheben zu wollen, kann man es vielleicht so formulieren: Gibt es das interessante Detail in der Bildmitte, funktionieren sogar Blende 8 und ein Bild, das vor Menschen übersprudelt. Der Erfolgsfaktor bleibt das ungewöhnliche Ereignis, auch oder gerade, wenn es erst auf den zweiten Blick zu entdecken ist.

Regel gebrochen, Bild geglückt. Auch in Zukunft werden sich die Anstrengungen in der Straßenfotografie nicht verringern, die einzigartige Situation isoliert abzubilden. Aber ein Wimmelbild als erweiterte Möglichkeit der Fotografie erscheint doch eine verlockende Alternative.

Michael S. Zerban