Respekt und Gelassenheit

Ein böses Wort macht die Runde. „Das Recht am eigenen Bild“ gerät in Deutschland immer mehr von einer guten Sache zur Kampfparole. Menschen in den so genannten sozialen Medien können aus rechtlicher Sicht gar nicht genug davor warnen, andere Menschen zu fotografieren. Das verändert die Fotografie in diesem Land – aber besser wird davon nichts. Ein Plädoyer für mehr Mut, Respekt und Gelassenheit.

Die Fußgängerzone im belgischen Tournai ist gut besucht. Die Menschen freuen sich über herrliches Sommerwetter, schlendern über Plätze und durch Gassen. Die Welt kann so schön sein. Plötzlich zückt ein Mann seine Kamera, hält sie einem vorübergehenden Passanten ins Gesicht. Der erste Versuch eines Fotos misslingt offenbar, aber der Fotograf bleibt am Mann. Der weiß gar nicht, wie ihm geschieht. Versucht, sich der aufdringlichen Kamera zu entziehen. Erst als er handgreiflich zu werden droht, lässt der Fotograf von ihm ab. Solche Aufdringlichkeit verbot schon immer der Anstand. Offenbar befand der europäische Gesetzgeber das für nicht ausreichend und hat inzwischen Rahmenbedingungen geschaffen, die einem verleiden, den Fotoapparat überhaupt noch auszupacken. Zumindest kann der Eindruck entstehen, wenn man in einschlägige Artikel im Internet schaut.

Wirklich hat sich auch die fotografische Landschaft in geradezu paradoxer Weise verändert. Während Tag für Tag Milliarden von Fotos mit dem Mobiltelefon fabriziert werden, fühlen sich die Menschen oft genug fast schon bedroht, wenn eine Kamera auftaucht. Sofern man sie nicht gerade an einer touristischen Sehenswürdigkeit in Stellung bringt. Und immer häufiger fühlen sich Leute, denen man nicht einmal zutraut, dass sie den Müll richtig sortieren können, bemüßigt, auch ohne Anlass auf ihr Recht am eigenen Bild zu pochen. Die Stimmung verschlechtert sich nahezu täglich, und das ist spürbar. Ja, man fühlt sich mehr als einmal an Ureinwohner erinnert, die Angst haben, dass ihnen das Foto die Seele raubt. Sind wir also wieder im Mittelalter angekommen?

Zeit innezuhalten und darüber nachzudenken, was zu ändern ist. Denn tatsächlich hat sich trotz der scheinbar engeren Regeln gar nicht so viel verändert. Wer Menschen auf der Straße fotografiert, um sie anschließend auf einem Plakat abzubilden, das Margarine verkaufen soll, musste 1960 deren Einverständnis einholen und sie vergüten. Dass ist bis heute so geblieben, und das ist gut so. Wenn Menschen zu künstlerischen Zwecken fotografiert werden, wie das in der Straßenfotografie beinahe regelmäßig der Fall ist, können sie sich dem im Sinne der Kunstfreiheit kaum entziehen. Auch das ist richtig so. Ohne eine solche Regel hätte es kaum einen der berühmten Straßenfotografen der Vergangenheit gegeben. Das zeigt die aktuelle Entwicklung in der Straßenfotografie, in der wir mit Rückenansichten von Menschen, verwischten Figuren oder Silhouetten gelangweilt werden. Wer sich dafür interessiert, findet im Internet Videos, in denen solche Fehlentwicklungen gar als „Tipps“ angepriesen werden, um den gesetzlichen Bestimmungen zu entgehen. Sie erweisen der Fotografie den gleichen Bärendienst wie solche „Fototrainer“, die von Bildern abraten, auf denen behinderte oder obdachlose Personen abgelichtet sind. Sie liegen zwar vollständig falsch, zumal sie den dokumentarischen Charakter von Fotografien unterbinden, führen aber auf ein viel wichtigeres Thema, das der Gesetzgeber aus guten Gründen vermeidet. Selbstverständlich kann man einen Obdachlosen auf der Straße fotografieren – wenn man den Grundsatz der Würde des Menschen beachtet. Da können ganz wunderbare Bilder entstehen. Übrigens nicht solche, wie sie der Gesetzgeber auf Zigarettenschachteln zulässt. Ideologie schlägt Menschenwürde. Aber das ist vielleicht ein anderes Thema.

Ach so, was ist, wenn mein Bild auf dem Plakat auftaucht, das eine Fotoausstellung ankündigt? Ist das noch Kunst oder bereits kommerzielle Nutzung? Im Zweifelsfall gilt: Ist der Fotograf unbekannt und froh, endlich eine Ausstellung zu haben, darf ich mich daran freuen, dass ich möglicherweise zu seinem Erfolg beitragen kann. Ist der Fotograf berühmt und verdient mit meinem Bild Geld, freue ich mich, von einem solch bekannten Künstler abgelichtet worden zu sein. Der Jurist riete vermutlich spätestens im letzten Fall zur Klage, um eine Vergütung zu ergattern. In einer Gesellschaft, die sich dem Kapitalismus verschrieben hat, ist das dann vermutlich der „vernünftige“ Weg. Der Kölner hingegen würde an dieser Stelle sagen: Man möht och jünne künne – man muss auch gönnen können.

Ein Bild, das Würde ausstrahlt © Michael Zerban

Ermüdend ist, von Künstlern zu hören, dass sie ihr Recht auf das eigene Bild einfordern. Sie sollten froh sein, dass für sie als Personen des besonderen öffentlichen Interesses noch einmal ganz andere Regeln gelten. Wenn die nicht mehr greifen, ist es mit ihrer Karriere meist auch nicht mehr weit her. Aber bleiben wir bei der Privatperson, die nun genau weiß, dass sie ein Recht auf das eigene Bild hat und das somit als Deutscher auch durchsetzen wird.

Ein Foto raubt die Seele nicht

Irgendwann kommt wohl jeder in die Lebensphase, in der Fotos gar nichts Lustiges mehr sind. Bei Männern weicht das markante Profil dem Doppelkinn, der Waschbrettbauch verdoppelt oder verdreifacht sich. Den Frauen geht es nicht viel besser, ohne hier auf Einzelheiten einzugehen. Verständlich, dass damit die Lust weicht, sich ablichten zu lassen. Schlimm genug, dass man die Veränderungen täglich im Spiegel betrachten muss, von denen man bis dahin wusste, dass sie immer nur die anderen treffen würden. Da ist es schon fatal, wenn die eigene Freundin das Handy-Foto in den so genannten sozialen Medien veröffentlicht, weil man sich „so gut gehalten hat“. Kommt dann noch auf der Straße ein wildfremder Mensch vorbei und fängt das eigene Konterfei ein, möchte man gern im doppelten Sinn aus der Haut fahren. Und dann gibt es ja glücklicherweise das Recht am eigenen Bild. Da ist es gut, wenn man jemanden verklagen kann. Also, wenn man desjenigen habhaft wird oder zumindest das Foto irgendwo in der Öffentlichkeit wiederfindet. Das Bild zudem so gestaltet ist, dass man selbst nicht bloß als „Beiwerk“ oder als Bestandteil eines künstlerischen Werks auftaucht. In solchen Fällen wären die Kosten für den Rechtsbeistand vermutlich herausgeschmissenes Geld. Völlig umsonst bekommt man dann meist den Spott in den Medien.

Wie dem Dilemma entfliehen, das beide Seiten in unglückliche Situationen bringt? Die Rede ist von nichts anderem als einer Änderung des gesellschaftlichen Klimas. Schluss mit Aggression, Egoismus und Rechthaberei. Das ist leicht gesagt in einer Zeit, in der Minderheiten mit Macht versuchen, der Gesellschaft ihre Ideologien aufzuzwingen. Und für den einen oder anderen klingt es jetzt vielleicht danach, sich jedes Foto gefallen zu lassen. Nein, es geht um Gelassenheit. An einer Kreuzung an der Königsallee in Düsseldorf standen zwei Fotografen, die ihre Kameras auf die Passanten richteten, die im Begriff waren, die Straße zu überqueren. Es ging um eine Übung, wie man einzelne Personen vor einer verschwimmenden Menschenmenge scharf herausstellen kann. Plötzlich löste sich ein Mann aus der Gruppe und sprang auf die Fotografen zu. Wie sie dazu kämen, seine Frau zu fotografieren, herrschte er sie an. Sie hätten das zu unterlassen, schließlich habe seine Frau ein Recht am eigenen Bild und wolle nicht fotografiert werden. Während der eine Fotograf schon ansetzte, dem Passanten eine saftige Replik zu erteilen, fiel ihm der andere ins Wort und gab sich Mühe, den wütenden Ehemann zu besänftigen. Er habe selbstverständlich das Recht, an dieser Kreuzung zu stehen und zu fotografieren. Und wenn die Ehefrau zufällig Bestandteil der abgelichteten Menge sei, könne man schlecht um sie herumfotografieren. Die sachlichen Argumente verfingen nicht. Man könne wohl die Polizei holen. Ja, antwortete der Fotograf, das sei möglich, aber mit welchem Erfolg? Nach Sekunden wutentbrannten Schweigens, allein durchbrochen vom überhasteten Atmen des vermeintlichen Ehemannes, drohte er mit dem Rechtsanwalt, ehe seine Begleiterin ihn endlich weiterzog. Gewonnen hat hier keiner, abgesehen von ein paar belustigten Zeugen des Disputs. Mit ein wenig Gelassenheit hätte der Mann nicht nur die gute Laune seiner Begleiterin bewahrt, sondern auch sich selbst mögliche Magengeschwüre erspart.

Regeln des Anstands gelten auch für Fotografen

Wer von der einen Seite Gelassenheit erwartet, darf mit Fug und Recht auch verlangen, dass die andere Seite sich „korrekt“ verhält, sprich, die Regeln des Anstands wahrt. Bilder, die Menschen in entwürdigenden Situationen zeigen, sind tabu. Dazu zählen viele Menschen übrigens auch, beim Essen gezeigt zu werden. Was nach einer einfachen Regel klingt, ist im Zweifelsfall Auslegungssache. Hilft ein junger Mann einer alten Dame über die Straße, ist die Frau eindeutig in einer hilflosen Lage, also im engsten Sinn in einer entwürdigenden Situation. Soll man also auf das wunderbare Bild der Solidarität und Hilfsbereitschaft verzichten? Unterstellt man der Frau auch noch einen glücklichen Gesichtsausdruck, sollte die Entscheidung zugunsten des Bildes ausfallen. Wie gesagt: Auslegungssache. In solchen Fällen hilft dann ein altmodisches Mittel, das zwar zunehmend aus der Mode zu kommen scheint und auch ein wenig Lebenserfahrung voraussetzt, aber durchaus probat ist: der gesunde Menschenverstand.

An dieser Stelle sei auf einen Irrtum hingewiesen, der vor allem unter Straßenfotografen weit verbreitet ist. Ein richtig gutes Bild entstehe erst, wenn der Fotografierte die Aufnahme nicht bemerke, ist immer wieder zu lesen. Ein Blick in die Geschichte der Straßenfotografie zeigt, dass viele, heute weltberühmte Bilder gar nicht entstanden wären, hätten die Fotografierten nicht vorher einer Aufnahme zugestimmt. Ja, die Straßengangs und Underdogs, die dort zu sehen sind, posierten. Bei einer heimlichen Aufnahme hätte der Fotograf unter Umständen gar nicht überlebt. Stattdessen stehen die Fotografien heute für den Zustand der – amerikanischen – Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt. Das abgenutzte Argument, die Heimlichkeit sei notwendig, um die Spontaneität der Situation einzufangen, verfängt in den seltensten Augenblicken. Weitaus häufiger muss sich der Kameraträger wohl fragen lassen, ob er hier nicht seiner voyeuristischen Lust folgt. Aber selbstverständlich gibt es die spontanen Momente, in denen es nicht gilt zu fragen, sondern abzudrücken. Die alte Dame, die sich dankbar bei dem jungen Mann unterhakt, ist genau so eine wie der Großvater, der seinem Enkel glückselig die ausgebreiteten Arme entgegenhält, weil der gerade auf ihn zuläuft. Aber hier brauche ich nicht heimlich, womöglich „aus der Hüfte“, zu fotografieren, sondern werde ganz schnell und offensichtlich die Kamera zücken, um den Moment möglichst gut festzuhalten.

Kehren wir noch einmal zurück nach Tournai. Da sitzt ein Ehepaar auf der Terrasse eines Cafés – und würfelt. Das sieht man wirklich nicht alle Tage. Heimlich fotografieren? Der Fotograf entscheidet sich dagegen. Er tritt an den Tisch, entschuldigt sich für die Störung und bittet um Erlaubnis, das Paar ins rechte Bild zu setzen. Die beiden erklären sich einverstanden, und die Frau würfelt so lange, bis das Bild „perfekt“ ist. Als der Fotograf sich bedankt, erwidern die beiden den Dank und freuen sich, dass der Mann mit seinem Bild auf der Speicherkarte von dannen zieht. Es gilt die alte Regel, die jeder Profi-Fotograf verinnerlicht hat: Fotografie ist Kommunikation.

Würfelspieler in Tournai © Michael Zerban

Der Versuch eines Resümees kann immer nur der Beginn einer Diskussion sein. So ist auch dieser Beitrag zu verstehen. Er gibt keine juristischen Ratschläge und keine letzten Weisheiten. Fest dürfte allerdings stehen, dass der Gesetzgeber mit der Verschärfung seiner Regeln zum Recht auf das eigene Bild mindestens der Kunst einen Bärendienst erwiesen hat, wenn auch im ausgesuchten Einzelfall wie im Eingangsbeispiel ein Fotografierter nun einen besseren Schutz genießt. Merke aber: Der beste Rechtsweg ist immer der, den man sich erspart. Das gilt immer für alle Seiten. Und so sei den Fotografierten mehr Gelassenheit empfohlen – wenn Sie merken, dass Sie im Visier sind, lächeln Sie, das macht sich immer besser als ein empörter oder gar wutverzerrter Gesichtsausdruck – den Fotografen unter Beachtung der Würde des Menschen mehr Mut zugerufen. Wenn ihr die Menschen so respektvoll abbildet, dass sie sich wiederfinden und mit den Ergebnissen wohlfühlen, braucht ihr euch über mögliche Klagen keine Gedanken zu machen. Und euch schon gar nicht von schlecht formulierten Gesetzen ins Bockshorn jagen zu lassen.

Vielleicht finden wir auf dem Weg des Miteinanders wieder zu aussagekräftigen Bildern zurück, die nicht nur die verzerrten, unkenntlichen oder Rückansichten von Menschen zeigen, sondern das, was Fotografie ausmacht. Die Bilder von Menschen, die uns ihre Geschichte erzählen, wenn wir ihnen ins Gesicht gucken.

Michael S. Zerban